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Wie Resonanz das Reisen verändert

19.09.2022

Mit seinem Begriff der „Resonanz“ beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa einen Gegenentwurf zu Beschleunigung und Individualisierung. Er versteht darunter eine „Grundsehnsucht nach einer Welt, die einem antwortet“. Was zunächst sehr akademisch-abstrakt klingen mag, hat ganz konkrete Auswirkungen auf das Reiseverhalten und damit auf den Tourismus. Davon sind die Forschenden des Zukunftsinstituts überzeugt, die den Begriff des „Resonanz-Tourismus“ geprägt haben. Was es damit auf sich hat, erklärt Trendforscherin Anja Kirig im Interview.

Frau Kirig, Ihre Keynote auf dem TMBW-Tourismustag (2022) steht unter dem Motto „Resonanz und Resilienz“. Was haben diese beiden Begriffe mit der Zukunft des Tourismus in Baden-Württemberg zu tun?

Die Fähigkeit zur Resonanz und Resilienz sind zwei für die Zukunft hochwichtige Eigenschaften. Sie sind für den Tourismus in seiner Gesamtheit in Baden-Württemberg ebenso relevant wie für einzelne Organisationen oder auch Privatpersonen. Resonanz beschreibt eine Beziehungserfahrung, ein Erleben eines In-Kontakt-Seins. Rosa definiert dabei drei unterschiedliche Resonanzachsen: eine horizontale zwischen Individuen, Menschen, Lebewesen; eine diagonale Resonanzachse zwischen einem Individuum und etwas Materiellem oder Räumlichem und eine vertikale, die zwischen dem Individuum und etwas nicht Physischem, Immateriellem entstehen kann. Hier bekommen wir bereits den ersten Hinweis, dass Resonanz etwas ist, das sich nicht erzwingen lässt und vor allem immer einen Raum benötigt, in dem sie stattfinden kann. Wichtig ist auch, dass es nicht mit Harmonie, also einem Verschmelzen, verwechselt werden darf. Resonanzerfahrungen wirken im Individuum nach, sie verändern durch die erlebte Beziehung. Gehen wir davon aus, dass jene Beziehungserfahrungen eine tiefe Sehnsucht der Menschen sind, da sie aus jenen Verbindungen lernen, sich entwickeln, positive Effekte erzielen. Es handelt sich um ein Bedürfnis, dessen Aktualität zukünftig weiter anwachsen wird.

Doch wie wirkt sich das auf das Reisen und den Tourismus aus?

Für Reisen und Unterwegssein sind Resonanzerfahrungen jene Momente, die ein Erlebnis für eine Person sehr individuell und transformativ werden lassen. Aus sich überlagernden Erlebnissen werden für die Person begleitende Erfahrungen. Das kann sich zwischen Menschen entwickeln, in Kontakt mit Architektur oder Natur oder eben auch durch Resonanz mit einem Thema, Spiritualität, Geschichte.

Und die Resilienz?

Während sich das Thema Resonanz vor allem mit der Frage beschäftigt, welche Bedürfnisse die künftige Unterwegskultur hat, zielt das Thema Resilienz auf die Fähigkeit ab, mit aktuellen und kommenden Krisen und Unvorhersehbarem gut umgehen zu können. Zum einen ist es eine Haltung der Flexibilität und Adaptivität, zum anderen bedeutet es auch, ein zukunftsorientiertes Denken und Handeln zu besitzen. Die Frage für die Zukunft lautet daher: Wie kann ich meine Destination oder auch mein Unternehmen so ausrichten, dass ich nicht robust, sondern resilient reagieren kann? Und das unabhängig davon, ob es sich um kommende Phänomene der Klimakrise handelt, einen aktuellen Ressourcen-Engpass oder einen plötzlichen Ansturm von Gästen. Resilient ist ein Unternehmen auch, wenn es die „Great Resignation“ kreativ und unkonventionell zu lösen versucht.

Anja Kirig ist studierte Politikwissenschaftlerin und arbeitet als freiberufliche Zukunfts- und Trendforscherin. Seit 2005 gehört sie zum Netzwerk des von Matthias Horx gegründeten Zukunftsinstituts. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Themenfeldern Tourismus- und Freizeitkultur, Sport und Gesundheit sowie den Megatrends Neo-Ökologie, Post-Individualisierung und Gender Shift. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und bezeichnet sich selbst als „kritische Zukunftsoptimistin“.

anjakirig.de

„Resiliente Orte oder Organisationen ermöglichen Resonanz.“

Resilienter wollen wir ja alle werden. Doch was hat das mit Resonanz zu tun?

Resiliente Orte oder auch Organisationen sind prädestiniert dafür, dass sie Resonanz ermöglichen. Der Tourismus in Baden-Württemberg ist einerseits sehr divers, mit touristischen Highlights, Geheimtipps, wirklichen Unorten und einigen Lost Places. Generell verfügt das Bundesland damit über eine ungemeine Vielfalt an potenziellen Resonanzangeboten. Häufig wird nur ein wenig Umdenken benötigt, ein paar Stellschrauben, um Reisenden diese Erfahrungen zu ermöglichen. Die Fähigkeit zur Resilienz ist im Vergleich zur Resonanz vielleicht dabei die größere Herausforderung. Wichtig ist jedoch, trotz der Diversität des Bundeslandes, dass es hier gemeinsamer Ansätze und Strategien bedarf. Um über gemeinsame Identitäten resilient agieren zu können.

Was hat Corona aus Ihrer Sicht besonders stark verändert?

Die Pandemie wirkte wie ein entscheidender Einschnitt in diese ständige Verfügbarkeit des Reiseangebotes. Und sie wirkte gleichzeitig wie ein Entschleunigungsfaktor, da eben viele Reisemöglichkeiten plötzlich nicht mehr so vorhanden waren. Das hat Aspekte verstärkt wie bodengebundenes, naturnahes Reisen. Durch eine neue Wertigkeit des Reisens wurde auch die individuelle Frage wichtiger, was ich eigentlich von meiner Auszeit erwarte und mitnehmen möchte. Workation als Kombination aus Arbeit und Auszeit kann ebenfalls als ein Baustein betrachtet werden, der dazu beigetragen hat, dass ein Phänomen wie Resonanz-Tourismus zugenommen hat.

Wenn in Zukunft auch im Urlaub nachhaltige Beziehungserfahrungen oder persönliche Entwicklung im Mittelpunkt stehen werden, was heißt das für Destinationen und Leistungsträger? Wie könnten passende touristische Angebote aussehen?

Wie bereits erwähnt, kann eine Resonanzerfahrung auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden. In der Begegnung zwischen Menschen, im Kontakt mit Räumen oder Dingen oder eben auch in einer Beziehung zu einem Narrativ, einem Thema, etwas Abstraktem. Das bedeutet, dass Touristiker auf der einen Seite unglaublich viele Möglichkeiten haben, Gästen Resonanzräume zu öffnen, hierfür aber eben auch Strukturen und eine entsprechende Atmosphäre schaffen müssen. Es bedarf eines Umdenkens, dass Service, Preis und Angebote keine Garantie sind, um eine Beziehungserfahrung zu machen.

Kurz vor Beginn der Corona-Pandemie haben Sie gemeinsam mit anderen Forschenden eine Trendstudie zum „neuen Resonanz-Tourismus“ verfasst. Man könnte in den jüngsten Entwicklungen fast eine Bestätigung Ihrer Thesen sehen. Oder mussten Sie auch nachbessern?

Die Pandemie hat in der Tat einige Phänomene, die zuvor schon zu beobachten waren, verstärkt. Da wirkte das Ereignis wie ein Katalysator für bestimmte Trends. Gleichzeitig ist es aber stets unsere Aufgabe, Prognosen zu überprüfen, neu zu bewerten, auszurichten oder auch zu revidieren. Und mit der Corona-Pandemie hat sich ein Ereignis formiert, das zuvor natürlich so nicht absehbar war. Es gibt Entwicklungen, die unvorhersehbar sind und die genau auch die oben erwähnte Resilienz so notwendig machen. Zukunft kann nie linear betrachtet werden. Und es gibt ständig eine Dynamik der Veränderung. Indem Gesellschaft auf bestimmte Trends reagiert, aber eben auch auf bestimmte Ereignisse, wie zum Beispiel die Pandemie oder auch den Krieg gegen die Ukraine. Daraus ergeben sich neue Spins in den Megatrends, teils veränderte oder neue Subphänomene. Manches verstärkt sich, wie das Phänomen des Resonanz-Tourismus.

Die von Anja Kirig und weiteren Autorinnen und Autoren verfasste Studie „Der neue Resonanz-Tourismus. Herzlich willkommen!“ (Frankfurt am Main 2019, 116 Seiten, 225 Euro, ISBN 978-3-945647-62-2) kann über das Zukunftsinstitut bezogen werden.

zukunftsinstitut.de

Was hat Corona aus Ihrer Sicht besonders stark verändert?

Die Pandemie wirkte wie ein entscheidender Einschnitt in diese ständige Verfügbarkeit des Reiseangebotes. Und sie wirkte gleichzeitig wie ein Entschleunigungsfaktor, da eben viele Reisemöglichkeiten plötzlich nicht mehr so vorhanden waren. Das hat Aspekte verstärkt wie bodengebundenes, naturnahes Reisen. Durch eine neue Wertigkeit des Reisens wurde auch die individuelle Frage wichtiger, was ich eigentlich von meiner Auszeit erwarte und mitnehmen möchte. Workation als Kombination aus Arbeit und Auszeit kann ebenfalls als ein Baustein betrachtet werden, der dazu beigetragen hat, dass ein Phänomen wie Resonanz-Tourismus zugenommen hat.

Wenn in Zukunft auch im Urlaub nachhaltige Beziehungserfahrungen oder persönliche Entwicklung im Mittelpunkt stehen werden, was heißt das für Destinationen und Leistungsträger? Wie könnten passende touristische Angebote aussehen?

Wie bereits erwähnt, kann eine Resonanzerfahrung auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden. In der Begegnung zwischen Menschen, im Kontakt mit Räumen oder Dingen oder eben auch in einer Beziehung zu einem Narrativ, einem Thema, etwas Abstraktem. Das bedeutet, dass Touristiker auf der einen Seite unglaublich viele Möglichkeiten haben, Gästen Resonanzräume zu öffnen, hierfür aber eben auch Strukturen und eine entsprechende Atmosphäre schaffen müssen. Es bedarf eines Umdenkens, dass Service, Preis und Angebote keine Garantie sind, um eine Beziehungserfahrung zu machen.

„Natur bietet sich als Resonanzraum an oder erlebbare Architektur.“

Generell lässt sich sagen, dass in einer heterogenen Umgebung eher Resonanz entstehen kann als in einer homogenen Masse, sprich in einem kollektiven Einssein eines Echo-Raums. Das spricht gegen uniforme Hotelanlagen und gleichförmige Abläufe mit Menschen, die mir ähnlich sind. Gleichzeitig kann ich auf einem eher monothematischen Event, der Spielraum für Begegnung lässt, auch Resonanzerfahrungen machen – wenn ich Zeit und Platz für solche Erfahrungen bereitstelle.

Natur bietet sich als Resonanzraum an, ebenso wie erlebbare Architektur – ich denke hier an ein begehbares Dach wie bei der Oper in Oslo –, oder auch jene Angebote, die persönliche oder berufliche Fortbildungen ermöglichen. Slow Travel kann auf allen Beziehungsachsen Resonanz erzeugen. Es hängt so stark von Individuum und Moment ab, dass es da keine Blaupause gibt. Somit ist Resonanztourismus eher eine Haltung, die mit gewissen Grundkonditionen eine gute Ausgangsbasis schaffen kann.

Sie sagen langfristig eine Abkehr vom Massentourismus voraus, erwarten eine bewusstere und achtsamere Wahl des Reiseziels. Aber Hand aufs Herz: Ist Resonanz wirklich ein Thema für den Tourismus in seiner Breite oder doch nur für ein hippes Großstadt-Milieu?

Irgendeine Form des Massentourismus wird es immer geben, nur wird sich ein Tourismus für Massen an das Bedürfnis nach Resonanz anpassen. Die Konzepte dafür, wie wir sie aktuell kennen und für „normal“ halten, werden sich ändern. Genauso wie sich touristische Konzepte in den vergangenen Jahrzehnten und auch Jahrhunderten gesellschaftlichen Bedürfnissen und Strukturen angepasst haben.

„Resonanztourismus wird sicherlich nicht unter diesem Label verkauft werden.“

Was sich ganz klar sagen lässt: Resonanztourismus ist kein Luxusthema einer hippen Großstadtbevölkerung. Man muss sich nur die vielen Menschen anschauen, die Campen und Wandern gehen, die Radtouren machen oder eben auch ganz bewusst nach Alternativen zu überlaufenen Hotspots Ausschau halten. Phänomene wie Bikepacking sind längst im Discounter angekommen. Ich würde sagen, viele suchen genau in ihrer Auszeit eine solche Resonanzerfahrung ohne sich dessen bewusst zu sein. Um auf Ihre Frage zuvor zurückzukommen: Resonanztourismus wird sicherlich nicht unter dem Label Resonanztourismus verkauft werden. Wichtig ist, zu registrieren, dass wir uns aus der Spaß- und Erlebnisgesellschaft in eine Erfahrungsgesellschaft hineinbewegen. Das bedeutet, dass es gerade auf Reisen nicht länger um ein kurzfristiges Erlebnis geht, sondern um anhaltende Erfahrungen. Und das betrifft Menschen unabhängig von Herkunft, Alter, Kontostand.

Nicht nur bei den Gästen, auch bei Mitarbeitenden soll Resonanz künftig eine ganz neue Rolle spielen. Sogar den Fachkräftemangel wollen Sie damit in den Griff bekommen. Kann Resonanz wirklich alle unsere Probleme lösen?

Nicht nur die Gäste suchen nach guten Beziehungs- und Transformationserfahrungen. Es ist ein gesellschaftliches Gesamtphänomen, das entsprechend für Mitarbeitende gilt. Die Wertschätzung, die Gästen und Reisenden entgegengebracht wird, muss in gleichem Maß für Mitarbeitende, Destinationen und Ökosystem Gültigkeit haben.

Wie für alles auf der Welt gibt es nie nur die eine Lösung. Resonanz als Haltung impliziert aber, dass ich mit den Menschen vor Ort, dem Design und der Infrastruktur der Destination und nicht zuletzt dem Naturraum anders umgehe. Es verändert die Atmosphäre. Es impliziert Wertschätzung und Aufmerksamkeit, Offenheit und Verantwortung. Diese Haltung kann nur authentisch gelebt und geschaffen werden, wenn sie in jedem Detail verankert wird. Es geht dabei nicht um Perfektion, sondern um die Fähigkeit zum Wandel und zur Adaptivität.

Wenn ich eine Atmosphäre schaffen möchte, in der Resonanz möglich ist, benötige ich eine gewisse Arbeitskultur, die sozial, verträglich und einladend ist. Gerade die durch Resonanz ermöglichten Transformationserfahrungen, sprich die individuelle Weiterentwicklung, ist für die Zukunft von New Work elementar.

Dieses Interview ist erschienen in der jüngsten Ausgabe des Magazins „Tourismus Aktuell“. Darin informiert die TMBW zweimal im Jahr über aktuelle Trends und Entwicklungen im Tourismus. Das Magazin kann kostenlos bestellt oder abonniert werden.

Ansprechpartner für “Tourismus Aktuell”:
Dr. Martin Knauer
m.knauer@tourismus-bw.de



Autor(in): Tim Müller
Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg
Projektmanager Kommunikation & Koordination
E-Mail: t.mueller@tourismus-bw.de
Kategorien:
Aktuelles


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