Menü

Industriekultur als Reiseziel

26.05.2023

Spätestens, seit im Ruhrgebiet die Zeche Zollverein und andere Zeugnisse der industriellen Vergangenheit zu Besucherzielen wurden, ist klar: Das Thema Industriekultur lockt viele Interessierte an. In Baden-Württemberg haben sich sogar konkurrierende Unternehmen zusammengetan, um die Geschichte ihrer Branche in einem Museum zu erzählen.

Tuttlingen ist mit 38.000 Einwohnerinnen und Einwohnern keine große Stadt, beansprucht aber einen Superlativ für sich: Weltzentrum für Medizintechnik. Wie aus den einfachen Messerschmieden High-Tech-Unternehmen wurden, kann man bei einer Stadtführung erfahren. Die Tour „Auf dem Weg zum Weltzentrum der Medizintechnik“ war in den vergangenen Jahren sehr beliebt. „Wenn wir einen neuen Termin veröffentlicht haben, hat das Telefon bei uns den ganzen Tag geklingelt“, sagt Ann-Catrin Enderle, die bei der Stadt Tuttlingen im Bereich Wirtschaftsförderung arbeitet, „es gab für diese Führung auch immer Wartelisten.“
„Fast jeder dritte Deutsche interessiert sich für Angebote zur Industriekultur“, sagt Anne Köchling, Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Tourismusforschung an der FH Westküste. Die Zahl stammt aus der Studienreihe Destination Brand 21 der Inspektour GmbH, in der nach dem Interesse an Urlaubsarten und -aktivitäten gefragt wird. Damit liegt das Thema in der Rangliste immerhin gleichauf mit Camping-, Caravaning- und Reisemobilurlaub und noch vor Wintersport und Mountainbike. „Industriekultur ist sicher kein zentrales Urlaubsmotiv, aber dennoch ist die Zahl beachtlich“, urteilt Köchling, die sich unter anderem im Tourismusatlas Deutschland 2021 in einem Beitrag mit den „Chancen im Industrietourismus“ beschäftigt hat. „Unter den Gästen aus Spanien, Italien und Großbritannien ist das Potenzial sogar noch größer“, ergänzt sie.
In Großbritannien habe das Thema auch eine längere Tradition, in Deutschland markiert für die Wissenschaftlerin die Internationale Bauausstellung IBA Emscher Park 1999 den Beginn des Industrietourismus. Durch die IBA wurden Industrieflächen im nördlichen Ruhrgebiet zu Naherholungsgebieten, ein Netz von Rad- und Wanderwegen entstand. Vor allem aber wurden wichtige Zeugnisse der Industriekultur nicht abgerissen, sondern zu Ausstellungsorten umgewidmet wie die Zeche Zollverein in Essen und das Gasometer in Oberhausen. So entwickelten sich nicht nur die Bauwerke zu Wahrzeichen ihrer Städte, sondern insgesamt die Industriekultur zum touristischen Markenzeichen des Ruhrgebiets. Eine Möglichkeit, die wichtigsten Anlaufstellen zu erkunden, bietet die damals geschaffene, 400 Kilometer lange „Route Industriekultur“ – ein „Erfolgsprojekt mit jährlich über sieben Millionen Besucherinnen und Besuchern“, wie der Regionalverband Ruhr auf seiner Website schreibt.
Die Deutsche Gesellschaft für Industriekultur, die schon an der „Route Industriekultur“ beteiligt war, und das Land Nordrhein-Westfalen haben anschließend gemeinsam mit Institutionen aus anderen Ländern auch die European Route of Industrial Heritage (ERIH) entwickelt. Ziel war es, Touristinnen und Touristen die Attraktivität industriekultureller Standorte als Ausflugs- und Reiseziel näherzubringen. Abfahren wird sie zwar kaum jemand, aber auf der ERIH-Website kann man seitdem europaweit nach Industriemuseen und anderen Anlaufstellen zum Thema suchen.

Museen, die Identität stiften

Für Baden-Württemberg ist darin unter anderem das Maschenmuseum in Albstadt verzeichnet. Die Textilindustrie war über Jahrhunderte die prägende Branche in der Region, und als anlässlich der Heimattage 1987 eine Ausstellung zum Thema organisiert wurde, war das Interesse der Gäste enorm. „Dadurch war klar, dass wir die Ausstellung nicht einmotten, sondern mehr daraus machen“, sagt Susanne Goebel, Leiterin der Museen in Albstadt. Und so, wie im großen Ruhrgebiet die IBA Emscher Park und der Erhalt der Industriedenkmäler zu einem neuen Selbstbewusstsein in der Region beigetragen haben, sorgte das Maschenmuseum im kleinen Albstadt-Tailfingen für Identifikation in einem Ort, der ab den 1970er-Jahren durch die Textilkrise gebeutelt war. „Für weite Teile der Bevölkerung ist es ‚ihr‘ Museum“, sagt Goebel.
Die meisten Gäste stammen aus einem Umkreis von 50 bis 80 Kilometern, aber Fachleute nehmen auch eine weitere Anfahrt auf sich, um die Ausstellung zu sehen, und die örtlichen Textilfirmen kommen mit ihren Geschäftspartnern. Das ist nicht nur in Albstadt so: Die Zielgruppe reicht von Menschen, die generell an Kultur interessiert sind, über Ausflüglerinnen und Ausflügler, die solche Angebote nutzen, bis hin zu Menschen, die ein berufliches Interesse damit verbinden. Dabei geht es nicht nur um die Vergangenheit, interessant sind auch Besichtigungen moderner Unternehmen und Besuche in ihren betriebseigenen Museen. In Hohenlohe, wo viele führende Hersteller von Schrauben und Befestigungstechnik zuhause sind, haben sich sogar konkurrierende Firmen zusammengetan, um ihre Geschichte in einem gemeinsamen Haus zu erzählen – eine weithin einmalige Zusammenarbeit, die der Initiative des Unternehmers Reinhold Würth zu verdanken ist. „Kocherwerk“ heißt das Museum in Forchtenberg-Ernsbach, das 2021 seine Türen öffnete – in einem Gebäude, in dem die Firma Arnold die ersten industriell gefertigten Schrauben herstellte und damit den Grundstein für die Branche in der Region legte. Heute gibt es darin nicht nur das Museum, sondern auch Tagungsräume, die unter anderem von den Firmen genutzt werden.
Die Befestigungstechnik ist in Hohenlohe eine prägende Branche mit rund 30 Unternehmen und über 10.000 Mitarbeitenden. „Die Neugier in der Region war deshalb groß“, erklärt Museumsleiterin Melanie Greiner, „aber wir haben auch Besucher, die von weiter her kommen.“ Das ist zum einen dem Kocher-Jagst-Radweg zu verdanken, der direkt am Kocherwerk vorbeiführt. Zum anderen gibt es viele Gruppen, die nicht nur das Museum, sondern dazu noch eine der Firmen besichtigen. Viele ihrer Gäste kombinieren auch die Kunstausstellung im Museum von Würth in Gaisbach mit der Firmenhistorie im Kocherwerk, so Greiner. „2022 hatten wir mehr als 10.000 Besucher – und das in so einem kleinen Örtchen. Damit sind wir sehr zufrieden.“

©Quelle: ©Elia Schmid
Kocherwerk ©Elia Schmid
©Quelle: ©Elia Schmid
Kocherwerk ©Elia Schmid

Die Kombination macht‘s

Damit die Industriekultur nicht nur Tagesgäste motiviert, sondern sogar zum Reiseanlass mit Übernachtung werden kann, „muss die Dichte an interessanten Orten zu einem Thema groß sein“, erklärt die Wissenschaftlerin Anne Köchling. Eine Strategie kann auch sein, das Thema mit anderen touristischen Bereichen zu verbinden wie Shopping, Radfahren, Wandern oder kulturellen Erlebnissen im Allgemeinen. Wichtig sei es außerdem, die Industrie und ihre Geschichte zu inszenieren und mit Events zu verknüpfen. Als gutes Beispiel dafür nennt Köchling die Autostadt Wolfsburg, die 2019 noch über zwei Millionen Besucherinnen und Besucher hatte.
„Starke Marken ziehen natürlich auch die Menschen an“, sagt sie. Davon profitieren Museen von Unternehmen, wie das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart, das 2019 rund 851.000 Besucherinnen zählte, und das Porsche-Museum mit rund 447.000 Besuchern im selben Jahr. Das gilt aber auch für Junghans in Schramberg, dessen Museum obendrein in einem sehenswerten Terrassenbau am Hang liegt, in dem früher auch die Uhren hergestellt wurden. „Die Firma war und ist prägend in Schramberg“, sagt Andrea Müller, die bei der Stadtverwaltung für Tourismus zuständig ist. Die deutsche Uhrenstraße führt durch die Schwarzwald-Gemeinde, das Stadtmuseum hat eine Uhrenabteilung und mit den „Erfinderzeiten“ gibt es ein weiteres Uhrenmuseum. „Für den Tagestourismus sind die Museen von großer Bedeutung“, urteilt Müller, „aber es macht deshalb keiner einen zweiwöchigen Urlaub hier.“
Die Schramberger Touristikfachleute haben allerdings das Thema Zeit aufgegriffen und spielen auf vielfältige Weise damit – in ihren Broschüren, aber auch in Angeboten, die „Wanderzeit“ und „Familienzeit“ heißen. Im „Park der Zeiten“ kann man die präziseste Sonnenuhr der Welt betrachten. Zu ihr und anderen Anlaufstellen rund ums Thema Uhren führt eine Geocaching-Route namens „Schramberger Zeitencache“. Die Erlebnistour „Annis Schwarzwaldgeheimnis“, bei der sich Familien von einem Rätsel zum andern knobeln, greift ebenfalls die Tradition der Uhrenherstellung auf. „Dass es die Firma Junghans gibt“, urteilt Andrea Müller, „hat auf jeden Fall einen großen Einfluss auf die Bekanntheit unseres Orts.“

Dieser Beitrag ist die Online-Version eines Artikels unserer Autorin Claudia List aus der jüngsten Ausgabe des Magazins „Tourismus Aktuell“. Darin informiert die TMBW zweimal im Jahr über aktuelle Trends und Entwicklungen im Tourismus. Das Magazin kann kostenlos heruntergeladen, bestellt oder abonniert werden.

Ansprechpartner für “Tourismus Aktuell”:
Dr. Martin Knauer
m.knauer@tourismus-bw.de



Autor(in): Tim Müller
Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg
Projektmanager Kommunikation & Koordination
E-Mail: t.mueller@tourismus-bw.de


Als PDF speichern
Seite Teilen Über:
Kommentare einblenden Kommentare ausblenden

Keine Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Weitere Artikel