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Tourismus jenseits des Wachstums: Was bedeutet eigentlich Postwachstum?

12.06.2023

Am 4. Juli 2023 beschäftigt sich der TMBW-Tourismustag mit dem Thema „Tourismus jenseits des Wachstums?“. Die Veranstaltung dient als Startschuss für eine breite Diskussion darüber, wie sich das Urlaubsland Baden-Württemberg künftig beim Thema Wachstum positionieren möchte und wie touristischer Erfolg gemessen werden soll. Im Vorfeld werden die wichtigsten Fragestellungen und Facetten des Themas hier im Tourismusnetzwerk eingeordnet. Heute starten wir diese Mini-Serie mit der Frage „Was bedeutet eigentlich Postwachstum?“.

Der globale Tourismus kannte in den letzten Jahrzehnten bekanntlich nur eine Richtung: nach oben. Die Verkündung neuer Rekordergebnisse war bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie auch in Baden-Württemberg eine etablierte Routine. Sie entwickelte sich zu einer Art Ritual, das von der Öffentlichkeit und den Medien mit einer entsprechenden Erwartungshaltung quittiert wurde: Ein Jahr ohne Wachstum war kein gutes Tourismusjahr.

Eine Diskussion über touristisches Wachstum gibt es inzwischen vielerorts. Nicht nur an den bekannten Hotspots des Overtourism in Barcelona oder Venedig. Auch das oft als Vorbild für Baden-Württemberg genannte Südtirol führt diese Debatte. Mit der Begrenzung der Bettenzahl wurde dort erst vor Kurzem ein radikaler Schritt umgesetzt, der hierzulande noch undenkbar ist.

Doch nicht nur die Tourismusbranche diskutiert über Alternativen zu rein wachstumsorientierten Modellen. Der Blick über den Tellerrand kann daher helfen, aktuelle Debatten besser zu verstehen. Vor allem das Schlagwort Postwachstum rückt dabei immer mehr in den Fokus.

Wachstumskritik in der Ökonomie

Kritik an einer auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaft ist kein neues Phänomen unserer von der Klimakrise geprägten Gegenwart. Bereits seit dem 19. Jahrhundert beschreiben Ökonomen eine statische oder stationäre Wirtschaft als ein Ideal. Mit John Maynard Keynes hatte die Idee eines abgeschwächten oder ganz ausbleibenden Wachstums als langfristigem Ziel ihren prominentesten Fürsprecher schon vor rund 100 Jahren.

Doch erst im Zuge der Umweltbewegung und der Etablierung einer ökologischen Ökonomie gewann die Wachstumskritik an Gewicht und Aufmerksamkeit. Vor allem der 1972 erschienene Bericht Grenzen des Wachstums schärfte den gesellschaftlichen Blick auf die Folgen eines dauerhaft ungebremsten Wachstums der Weltbevölkerung, der Weltwirtschaft und des damit einhergehenden Ressourcenverbrauchs.

Seit einigen Jahren werden entsprechende Überlegungen im internationalen Kontext unter dem Schlagwort Degrowth diskutiert. Im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff der Postwachstumsökonomie durchgesetzt. Vor allem das wachsende Bewusstsein über den Klimawandel und seine Folgen hat die schon deutlich ältere Frage nach den Grenzen des Wachstums neu belebt.

Die Überzeugung, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht möglich ist, findet immer mehr Anhängerinnen und Anhänger. Sie sind davon überzeugt, dass ungebremstes Wachstum nicht nur ökologische Probleme schafft, sondern auch zu sozialen und politischen Spannungen führt und letztlich nur mit explodierenden Staatsschulden erkauft werden kann.

Als Begründer der Postwachstumsökonomie gilt der deutsche Volkswirt Niko Paech. Mit seinen Vorträgen und Publikationen machte er das Thema ab 2007 in Deutschland populär und regte eine Vielzahl weiterer Studien und Debatten an. Auf seinem Onlineportal postwachstumsoekonomie.de formuliert er folgende Definition:

„Als Postwachstumsökonomie wird eine Wirtschaft bezeichnet, die ohne Wachstum des Bruttoinlandsprodukts über stabile, wenngleich mit einem vergleichsweise reduzierten Konsumniveau einhergehende Versorgungsstrukturen verfügt. Die Postwachstumsökonomie grenzt sich von landläufigen, auf Konformität zielende Nachhaltigkeitsvisionen wie qualitatives, nachhaltiges, grünes, dematerialisiertes oder dekarbonisiertes Wachstum ab. Den vielen Versuchen, weiteres Wachstum der in Geld gemessenen Wertschöpfung dadurch zu rechtfertigen, dass deren ökologische Entkopplung kraft technischer Innovationen möglich sei, wird somit eine Absage erteilt.“  Niko Paech

Eine weitere Definition bietet das Onlineportal New Work Glossar:

„Postwachstum ist eine ökonomische Denkschule, die sich vom Gedanken unendlichen Wachstums verabschiedet und an dessen Stelle ein Gesundschrumpfen stellt. Der Gedanke ist dabei, dass wir unseren Konsum verringern und dementsprechend auch weniger produzieren müssen. Nachhaltiges Wirtschaften, um unsere ökologischen Lebensgrundlagen nicht zu zerstören und friedvoller und gerechter miteinander zu leben, rückt damit in den Fokus.“  New Work Glossar

Postwachstum und Tourismus

Auch im Tourismus wird das bisherige Wachstumsmodell zunehmend in Frage gestellt. Die Diskussion begann bereits vor der Pandemie, damals vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Massentourismus. Für den österreichischen Zukunftsforscher Andreas Reiter, einen der Speaker beim TMBW-Tourismustag, wirken die multiplen Krisen der vergangenen Jahre lediglich als „Beschleuniger für eine radikale Runderneuerung“ und für eine grundlegende Transformation des Tourismus:

Für Andreas Reiter verschiebt sich die Gewichtung im Tourismus momentan „vom quantitativen Wachstum hin zu qualitativer Entwicklung“. Was genau darunter zu verstehen ist, wird er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des TMBW-Tourismustags in Metzingen vorstellen.

Am Beispiel des viel beschworenen „Qualitätstourismus“ lässt sich zeigen, dass die Vorstellungen darüber noch weit auseinander gehen. Für Barcelona zeigt der Münchener Geograph Moritz Langer auf, wie unter diesem Schlagwort Marketingmaßnahmen einfach auf wohlhabende und ausgabefreudige Reisende aus den USA oder Asien umgelenkt werden. Nach seiner Einschätzung müsste ein am Modell der Postwachstumsökonomie ausgerichteter Tourismus andere Prioritäten setzen:

„Postwachstums-Tourismus würde ein Tourismussystem bedeuten, welches in eine lokalisierte und diversifizierte urbane Ökonomie eingebettet ist, und eine ‚langsame‘ Form des Reisens, basierend auf dekarbonisierter Mobilität, priorisiert. Es wäre ein System, in dem sowohl faire Arbeitsbedingungen als auch Entlohnung für die Arbeitnehmer*innen geschaffen werden und welches die Profite in der Destination gerecht verteilt. Kurzum repräsentiert es ein Ausmaß an Tourismus, welches nicht zulasten der lokalen Umwelt und Bevölkerung agiert.“  Moritz Langer

Barcelona kehre nach der Pandemie mit seinem Weg hingegen zum wachstumsorientierten Tourismusmodell zurück und lasse damit eine einzigartige Chance zur Erneuerung ungenutzt, so Langer.

Die Diskussion über Postwachstum und Tourismus hat gerade erst begonnen. Was darunter zu verstehen ist, ist wie so vieles noch im Fluss. In ihrem 2019 erschienenen Artikel „Degrowing tourism“ fordern die Autorinnen und Autoren eine Neudefinition des Tourismus, der die Rechte der einheimischen Bevölkerung über das Recht der Reisenden auf Urlaub und über das Recht der Tourismusbetriebe auf Profit stellt.

So weit muss man bei uns vermutlich nicht gehen. Das Urlaubsland Baden-Württemberg ist weit entfernt von Verhältnissen wie in Barcelona oder andernorts. Es wird viel unternommen, um die Ansprüche von Gästen und Einheimischen nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern miteinander in Einklang zu bringen. Doch eine Debatte darüber, welchen Tourismus wir wollen und welche Rolle die unterschiedlichen Vorstellungen von Wachstum darin spielen werden, ist auch hier dringend zu führen.

Andreas Reiter fasst diesen neuen Anspruch an den Tourismus so zusammen: „Das neue touristische Ökosystem ist mehr als die Summe der einzelnen Akteure. Es wird getragen von einem neuen verantwortungsvollen Spirit, der Qualität vor Quantität einfordert, Wertschätzung vor Wertschöpfung, Gemeinwohl vor Partikular-Interessen.“

Zum Weiterlesen:

  • Gesa Witt: Tourismus in einer Postwachstumsgesellschaft. Annäherung an eine wachstumsunabhängige Zukunftsperspektive für das System Tourismus in Deutschland. Masterarbeit Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2017. Download
  • Konstantinos Andriotis: Degrowth in Tourism. Conceptual, Theoretical and Philosophical Issues. Wallingford/Boston 2018. E-Book
  • André Reichel (Hrsg.): Next Growth. Wachstum neu denken. Frankfurt am Main 2018 (Zukunftsinstitut).
  • Michael Hall, Linda Lundmark, Jundan Jasmine Zhang (Hrsg.): Degrowth and Tourism. New Perspectives on Tourism Entrepreneurship, Destinations and Policy. London 2020. E-Book
  • Konstantinos Andriotis (Hrsg.): Issues and Cases of Degrowth in Tourism. Wallingford 2021. E-Book


Autor(in): Martin Knauer
Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg
Pressesprecher
E-Mail: m.knauer@tourismus-bw.de


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2 Kommentare

Kommentare




  1. Lieber Herr Dr. Knauer,
    eine tolle Zusammenfassung und ein wertvoller Impuls. Diese sozial-ökonomische Diskussion müssen wir unbedingt (jetzt!) im Tourismus führen. Ich freue mich auf diese Diskussionen und vor allem die Ideen für eine entsprechende “Wegeveränderung”.
    Letztlich muss es eine gesamtgesellschaftliche und zentrale politische Debatte im Sinne der vielzitierten “Zeitenwende” (nicht nur im machtpolitischen und militärischen Sinne) sein, in die die tourismusspezifische Diskussion eingebunden sein muss.

    In einem Punkt möchte ich aber doch einen gewissen Widerspruch anmelden: Auch bei uns in Baden-Württemberg “muss man soweit gehen” (auch wenn wir nur an wenigen Stellen Ausmaße wie in Barcelona oder Amsterdam haben). Die Umkehr der Prioritäten und geltenden Prinzipien wird nicht “graduell” gelingen, entweder ganz oder gar nicht (mehr).

    Toll, dass wir uns dieser Debatte stellen.

    1. Lieber Herr Knittel,
      danke für Ihre Reaktion und Ihren Widerspruch! Ich wollte damit vor allem zeigen, dass der Ausgleich der verschiedenen Interessen bei uns im Land schon (meistens) mitgedacht und gelebt wird. Aber natürlich ist es wichtig, jetzt die richtigen Weichen zu stellen und ggf. gegenzusteuern. Nicht erst dann, wenn es zu spät ist. Wir sind sehr gespannt auf diese Diskussion und auf die Meinungen dazu im Land. Ich freue mich auf weitere Wortmeldungen, gerne auch Widerspruch!

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