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“Voluntourismus” in Baden-Württemberg: Reisen und helfen

12.04.2021

Voluntourismus heißt die Verbindung von Urlaub und Freiwilligenarbeit. Bisher war das eher ein internationales Thema, doch die Nachfrage steigt auch im eigenen Land. Im Naturpark Südschwarzwald gibt es dazu ein Modellprojekt und auf der Mittelalter-Baustelle Campus Galli bereits jahrelange Erfahrungen.

Jeden Dienstag kommen in Meßkirch die Neuen. Einkleiden, einweisen, Wünsche abfragen und Einsatzmöglichkeiten prüfen. Korbmacherei, Schmiede, Landwirtschaft, Textilwerkstatt: Tätigkeitsfelder gibt es viele. Das Verfahren ist längst professionalisiert, seit den Anfängen 2014 gab es auf der Baustelle der Klosterstadt Campus Galli freiwillige Helfer. Die meisten kommen in ihrem Urlaub, bleiben zwischen sechs Tagen und drei Monaten. „Eine unverzichtbare Hilfe“, versichert Hannes Napierala, der Geschäftsführer des Projekts. Ohne die Freiwilligen würde alles viel langsamer vorangehen, sie packen wirklich mit an und unterstützen die rund 45 fest angestellten Mitarbeitenden in fast allen Bereichen. Besonders gefragt sind die handwerklichen Arbeiten. Campus Galli hat es sich zum Ziel gesetzt, mit den Mitteln der damaligen Zeit den St. Galler Klosterplan nachzubauen. Ein ambitioniertes Vorhaben, das es so in Deutschland noch nicht gegeben hat. Alles soll so authentisch wie möglich sein, selbst die Kleidung, die die Arbeitskräfte tragen, ist aus den Stoffen des Mittelalters gefertigt. Auch die Freiwilligen tragen Woll- und Leinengewänder nach mittelalterlichem Vorbild. „Äußerlich sind sie von unseren Hauptamtlichen gar nicht zu unterscheiden“, sagt Napierala. Wer bei Campus Galli mitmacht, legt in der Garderobe nicht nur seine Kleidung, sondern den Alltag gleich mit ab. Das Eintauchen in eine andere Welt, ohne Smartphone, Automobil und Motorsäge.

Ein Einsatz, der Spuren hinterlässt

Es ist ganz erstaunlich, wer sich dort alles meldet. Geschichtsinteressierte, IT-Fachkräfte, Studierende, Handwerkerinnen und Handwerker, die wissen wollen, wie früher einmal gearbeitet wurde. „Eine tolle Mischung und ein wertvoller Austausch“, meint der Projektleiter. Nicht wenige kommen im darauffolgenden Jahr wieder, in einigen Fällen sind aus ehemals Freiwilligen sogar feste Teammitglieder geworden. Bei Campus Galli ist das Freiwilligenengagement längst Routine. 150 bis 200 Ehrenamtliche bieten jede Saison ihre Unterstützung an, es gibt eine Buchungsplattform, auf der man seinen Zeitraum wie im Kalender eines Ferienhausportals wählen kann. Gleichzeitig werden Interessen und Konfektionsgrößen abgefragt, damit gleich zu Beginn auch die passende Kleidung zur Verfügung steht. Bezahlt werden die Freiwilligen nicht, ihre Arbeitszeit ist eine Spende an das Projekt, das sie so indirekt auch finanziell unterstützen. Der Lohn freilich ist ein Blick hinter die Kulissen, der den Besucherinnen und Tagestouristen verwehrt bleibt, eine Erfahrung, die um ein Vielfaches intensiver ist, als wenn man nur Zaungast wäre. Machen kann sie fast jeder, der mindestens 16 Jahre alt ist. „Man muss keine bestimmten Voraussetzungen mitbringen, sondern nur zuverlässig sein“, sagt Napierala, „jeder kann irgendetwas.“

Freiwilligenhilfe vermehrt im Inland

Arbeitseinsätze von Urlaubsfreiwilligen sind nichts Neues. Auf internationaler Ebene gibt es das schon seit Langem. So halfen bereits vor über 20 Jahren zahlende Gäste beim Wolfs- und Bärenprojekt der Wildbiologischen Gesellschaft in Rumänien mit. In Guatemala konnte man an der Zuckerrohrernte teilnehmen, in Afrika nach der Safari bei Brunnenbohrarbeiten mitwirken. Neu ist, dass nun auch das Interesse im Inland zunimmt. Das liegt einerseits daran, dass durch die Corona-Krise die Mitarbeit in fernen Ländern kaum noch möglich ist. Andererseits sind viele internationale Projekte durch die zunehmende Kommerzialisierung auch ins Gerede gekommen, wie eine Studie von „Brot für die Welt“ zum Thema Voluntourismus zeigt. So kommt ein Projekt gerade recht, das 2020 im Südschwarzwald seinen Anfang nahm. Der dortige Naturpark ist eine von vier Modellregionen in Deutschland, in denen die Verbindung von Urlaub und Freiwilligeneinsätzen in den „Nationalen Naturlandschaften“ erprobt werden soll. Der Begriff umfasst Naturparks, Nationalparks und Biosphärenreservate. Weitere Modellregionen sind der Müritz-Nationalpark, der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und das Biosphärenreservat Mittelelbe.
„Für Großschutzgebiete gibt es bisher noch kein Konzept“, sagt Christine Peter, Projektkoordinatorin aus dem Südschwarzwald. Das soll nun entwickelt und erprobt werden, ein auf drei Jahre angelegtes Vorhaben, das vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums finanziell gefördert wird. Eigentlich fiel der Startschuss schon im März 2020, doch die Corona-Krise hat dafür gesorgt, dass im selben Jahr noch keine Urlaubsgäste zum Einsatz kamen. Das soll sich 2021 ändern, sobald die Rahmenbedingungen dafür vorhanden und touristische Reisen wieder ungehindert möglich sind.

Hilfsdienst und touristische Erfahrung im Einklang

Derzeit sind mehrere unterschiedliche Voluntourismus-Formate in den „Nationalen Naturlandschaften“ vorgesehen. Der Begriff ist ein Kunstwort, das sich aus den Komponenten „Volunteering“ (Freiwilligenarbeit) und „Tourismus“ zusammensetzt. Im Modellprojekt wird das sehr wörtlich genommen: Es geht nicht nur darum, dass Freiwillige in ihrem Urlaub arbeiten, sie sollen dabei auch ein touristisches Erlebnis haben.
Die erste Variante sieht den Einsatz für kurzentschlossene Reisende vor. Ein halber oder auch ein ganzer Tag kann das sein, die Freiwilligenarbeit ist dann ein Baustein im Ferienprogramm der Gäste. „Eine schöne Möglichkeit, einmal hineinzuschnuppern“, findet Christine Peter. Möglichkeit zwei ist die Gruppenpauschalreise. Eine Woche kombiniertes Programm aus Freiwilligendienst und touristischen Erlebnismomenten. Den Schwarzwald kennenlernen, aber eben nicht nur aus der reinen Beobachterperspektive. Dazu braucht es Partner wie etwa BUND-Reisen. Ein Ziel des Modellprojektes ist letztlich auch der Aufbau von Netzwerken, die helfen, den Voluntourismus in die Praxis umzusetzen. Auch die Ecocamping GmbH ist mit im Boot, ein Unternehmen mit Sitz in Konstanz, das Zertifikate für umweltfreundliche Campingplätze vergibt. Nicht unwahrscheinlich, dass die Gäste auf solchen Campingplätzen auch zur Zielgruppe der Voluntouristinnen und Voluntouristen gehören. „Eine gewisse Naturaffinität ist sicherlich Voraussetzung“, sagt Christine Peter.

Im Detail wird sich Voluntourismus erst noch definieren

Potenzielle Einsatzfelder für die Urlaubsfreiwilligen gibt es viele: die Biotop-Pflege, die Beseitigung fremdartiger Pflanzen (Neophyten), Wege-Instandhaltung, Moor-Renaturierungen oder Bachbettarbeiten. Sinnvoll soll es sein, zur Umweltbildung beitragen, aber auch ein nachhaltiges Erlebnis bieten. „Wir wollen keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“, sagt die Projektkoordinatorin, die freilich zu bedenken gibt, dass erst im Laufe der Praxis klar sein wird, was letztlich am besten funktioniert und geeignet ist. Am Ende soll ein Handlungsleitfaden stehen, der zeigt, mit welchen Strukturen ein erfolgreicher Voluntourismus in den „Nationalen Naturlandschaften“ möglich ist. Der sieht als Einsatzvariante drei auch längerfristige Möglichkeiten des Engagements vor, so wie sie etwa im Rahmen der WWOOF-Bewegung (WorldWide Opportunities on Organic Farms) auf Ökobauernhöfen angeboten werden.

Der Voluntourismus in Deutschland und Baden-Württemberg ist jedenfalls erst am Anfang. Seine Perspektive unter den aktuellen Rahmenbedingungen scheint jedoch günstig. Das sieht auch Martin Knauer, Pressesprecher der Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg so: „Die Nachfrage nimmt aktuell zu, wir sehen hier Potenzial für die Zukunft und bündeln online bestehende Angebote.“

 

PROJEKTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Arbeit auf dem Biohof: Das Projekt „Solidarische Landwirtschaft in Bad Waldsee“ ist eine Hofgemeinschaft mit rund 80 Mitgliedern. Sie werden in Bio-Lebensmitteln ausbezahlt. Auch freiwillige Arbeitskräfte sind dort willkommen sowie naturverbundene Gäste, die gegen freie Kost und Logis mitarbeiten können.

Klosterbaustelle Campus Galli: Mit den Werkzeugen, Werkstoffen und Methoden des Mittelalters soll eine Klosterstadt entstehen. Bis zu 200 Urlaubsfreiwillige kommen dort jährlich zum Einsatz, sie bezahlen eine kleine Pauschale, tragen mittelalterliche Kleidung und verpflichten sich, mindestens sechs Tage mitzuarbeiten.

Voluntourismus im Südschwarzwald:  Bundesweites Pilotprojekt, in dem der Naturpark Südschwarzwald eine der Modellregionen ist. Auf drei Jahre angelegt, 2021 sollen die ersten Reisenden die Möglichkeit zur Mitarbeit im Naturschutz bekommen. Für Einzelgäste, die tageweise mitmachen wollen, soll die Teilnahme kostenfrei sein.

Naturschutz im Nordschwarzwald: Herzenssache Natur“ heißt eine Initiative des Naturparks Schwarzwald Mitte/Nord, bei der Ehrenamtliche und Freiwillige von Frühjahr bis Herbst bei der Landschaftspflege mithelfen. Wiesen und Trockenmauern werden bearbeitet, Heidelbeerflächen freigehalten. Nicht zuletzt geht es dabei um den Schutz des bedrohten Auerwilds.

Wiesen und Bienen schützen: Auf dem Gelände der ehemaligen Landesgartenschau am Neckarknie in Plochingen kommen Naturschutz und Umweltbildung spielerisch zusammen. Das Umweltzentrum Neckar-Fils arbeitet dabei eng mit dem Tourismusbüro in Plochingen zusammen, es gibt viele Mitwirkungsmöglichkeiten für Freiwillige.

 

INFORMATION

Der Beitrag unseres Autors Andreas Steidel ist eine Kurzfassung seines Artikels in der jüngsten Ausgabe des Magazins „Tourismus Aktuell“. Darin informiert die TMBW zweimal im Jahr über aktuelle Trends und Entwicklungen im Tourismus. Das Magazin kann kostenlos bestellt oder abonniert werden.

Ansprechpartner:
Dr. Martin Knauer
m.knauer@tourismus-bw.de

 



Autor(in): Manuel Mielke
Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg
Stabstelle Kommunikation & Koordination
E-Mail: m.mielke@tourismus-bw.de
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