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Tourismus jenseits des Wachstums: Alternative Kennzahlen für die Gastwelt

19.06.2023

Am 4. Juli widmet sich der TMBW-Tourismustag dem Thema „Tourismus jenseits des Wachstums?“. Die Veranstaltung dient als Startschuss für eine breite Diskussion darüber, wie sich das Urlaubsland Baden-Württemberg künftig beim Thema Wachstum positionieren möchte und wie touristischer Erfolg gemessen werden soll. Im Vorfeld werden die wichtigsten Fragestellungen und Facetten des Themas hier im Tourismusnetzwerk eingeordnet. Heute setzen wir diese Mini-Serie mit dem Thema „Alternative Kennzahlen im Tourismus“ fort.

In einer Welt, in der Fragen der Nachhaltigkeit, des Postwachstums und der Gemeinwohlorientierung zunehmend an Bedeutung gewinnen, steht der Tourismus vor vielfältigen Herausforderungen und befindet sich bereits heute in einem tiefgreifenden Wandel. Dies könnte eine grundlegende Transformation der gesamten Branche bedeuten, die nicht nur das bisherige Wachstumsmodell zunehmend in Frage stellt (siehe dazu auch unseren Beitrag zum Thema Postwachstum). Die Tourismusbranche steht auch vor der Herausforderung, ihr Erfolgsmodell und die damit verbundenen Kennzahlen grundlegend neu zu definieren.

Traditionell gelten Gäste- und Übernachtungszahlen als entscheidende Indikatoren für den Erfolg des Tourismus. Diese quantitativen Kennzahlen stoßen jedoch an ihre Grenzen und lassen wichtige Aspekte unberücksichtigt. Sie reichen schlichtweg nicht mehr aus, um eine sich wandelnde Definition von Erfolg zu bemessen, die Komplexität der Branche abzubilden und ein ganzheitliches Bild des Tourismus und seiner Auswirkungen auf Dimensionen wie Umwelt, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Gemeinwohl adäquat zu erfassen. Aus diesem Grund werden zunehmend alternative Kennzahlen, so genannte Key Performance Indicators (KPIs), diskutiert.

Die Gastwelt

Um den gesellschaftlichen Beitrag der Branche zu erfassen und sinnvolle, allgemeingültige KPIs zu definieren, ist es notwendig, ein gemeinsames Verständnis der Sektoren und Bereiche zu entwickeln, die die ganzheitliche Wertschöpfung der Tourismusbranche ausmachen. Die Studie “360° Gastwelt” des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO trägt zu diesem Verständnis bei. Sie zeigt, dass ein ganzheitlicher Ansatz notwendig ist, um die tatsächliche Wertschöpfung des Tourismus zu erfassen und plädiert für ein neues Verständnis von Gastlichkeit als Serviceprodukt. Das Forschungsteam um Vanessa Borkmann fordert damit eine Weiterentwicklung der bisher stark fragmentierten Tourismusbranche hin zu einem vernetzten Business-Ecosystem.

Bei der Betrachtung des Begriffs Gastlichkeit wird schnell klar, dass diese nicht nur zwischen Gastgebenden und Urlaubsgästen stattfindet. Jeder Mensch bewegt sich tagtäglich in der Gastwelt. Sei es beim Bäcker, im Café, auf dem Weg zur Arbeit oder bei Veranstaltungen. 12 bis 15 Prozent seiner Lebenszeit verbringt jeder Mensch durchschnittlich in der Gastwelt, so die Studie. Das bisherige Konzept der Tourismuswirtschaft nehme darauf jedoch keine ganzheitliche Perspektive ein, meint das Forschungsteam und präsentiert ein alternatives Modell mit dem Ziel, ein gemeinsames Business-Ecosystem zu entwickeln. Was das genau bedeutet und welche weiteren Erkenntnisse die Studie liefert, wird Vanessa Borkmann den Teilnehmenden des TMBW-Tourismustages 2023 in ihrem Impulsvortrag erläutern.

So viel vorweg: Die vielfältigen Verflechtungen und branchenübergreifenden Verbindungen der Gastwelt und ihr wirtschaftlicher Mehrwert für andere Wirtschaftszweige müssen, so die Studie, stärker herausgestellt werden. Daraus ergibt sich auch ein Bedarf an neuen KPIs für die Branche. Diese sollten auch Aspekte wie die regionale Wertschöpfung, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Auswirkungen auf die Umwelt und den Erhalt der lokalen Kultur berücksichtigen. Damit soll auch der Beitrag des Tourismus zur nachhaltigen Entwicklung und zum Gemeinwohl aufgezeigt werden. Die Studie unterstreicht damit die Bedeutung neuer KPIs, die über rein quantitative Messgrößen hinausgehen und qualitative Aspekte des Tourismus erfassen. Doch wie könnten diese genau aussehen?

Neue Kennzahlen

In der Diskussion um neue KPIs im Tourismus werden verschiedene mögliche Kennzahlen diskutiert, die die bisherigen Erfolgsindikatoren erweitern könnten. Insbesondere das Thema Nachhaltigkeit spielt dabei eine wichtige Rolle. Nachhaltigkeitsindikatoren könnten die ökologische, soziale und kulturelle Dimension des Tourismus sichtbarer machen. Beispiele sind der CO2-Ausstoß, der Wasser- und Energieverbrauch, der Anteil erneuerbarer Energien sowie der Erhalt natürlicher Ressourcen und Ökosysteme. Mit Hilfe dieser Indikatoren kann aufgezeigt werden, ob der Tourismus im Einklang mit den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung steht.

„Ziel muss es sein, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte miteinander in Einklang zu bringen.“

Claudia Müller MdB, Koordinatorin der Bundesregierung für die Maritime Wirtschaft und Tourismus, Quelle: DZT Fortschrittsbericht „Tourismus nachhaltiger gestalten“

Auch soziale und gesellschaftliche Aspekte sowie das Gemeinwohl könnten in neuen Indikatoren berücksichtigt werden. Diese KPIs beziehen sich auf die Auswirkungen des Tourismus auf die Gesellschaft, wie z.B. die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Bewahrung der kulturellen Identität oder auch die Unterstützung von Bildung, Gesundheitsversorgung und Infrastruktur in den Destinationen. Diese Aspekte fließen auch in das Thema Tourismusakzeptanz ein, das ebenfalls als KPI herangezogen werden könnte. Das Deutsche Institut für Tourismusforschung hat hierfür mit dem Tourismusakzeptanzsaldo (TAS) bereits eine Messgröße entwickelt. In einer aktuell laufenden Studie geht das Institut noch einen Schritt weiter und untersucht ökonomische, ökologische und soziale Einflussfaktoren auf die Lebensqualität der Bevölkerung. Dabei soll ein valider und reliabler Indikator für den Beitrag des Tourismus zur wahrgenommenen Lebensqualität entwickelt werden.

Viele dieser sozialen und ökologischen Aspekte werden bereits in einer Gemeinwohlbilanz erfasst. Diese schafft mit einem Punktesystem zudem eine Mess- und Vergleichbarkeit und könnte somit ebenfalls als Kennzahl dienen. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie nächste Woche hier im Tourismusnetzwerk und beim TMBW-Tourismustag in Metzingen. Dort wird unter anderem Christian Haselsberger von der Destination Wilder Kaiser” berichten, wie eine Gemeinwohl-Bilanz in der Praxis funktioniert.

Alternative Indikatoren müssen sich jedoch nicht auf den Bereich der Nachhaltigkeit beschränken. Auch Themen wie Qualitätstourismus können sich in konkreten KPIs niederschlagen, z.B. in Form der Gästezufriedenheit, Weiterempfehlung oder Wiederbesuchsabsicht. Um ein umfassendes Bild des touristischen Erfolgs zu erhalten, können integrierte Bewertungsansätze verwendet werden. Dabei werden verschiedene KPIs und Indikatoren kombiniert, um ein ganzheitliches Bild des Tourismus und seiner Auswirkungen zu zeichnen.

Gemeinsamer Weg

Noch steht die Diskussion zu alternativen Kennzahlen ganz am Anfang. Einfache oder standardisierte Lösungen zeichnen sich bisher nicht ab. Sicher ist nur: Der Übergang zu neuen KPIs im Tourismus erfordert ein Umdenken und eine breite Akzeptanz in der Branche. Politik, Tourismusorganisationen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen müssen gemeinsam an der Etablierung und Umsetzung dieser neuen Bewertungsmaßstäbe arbeiten. Dazu ist ein breiter Diskurs innerhalb der Tourismusbranche unter Einbeziehung der verschiedenen Interessensgruppen notwendig. Der TMBW-Tourismustag 2023 bietet eine Plattform, um erste Meinungen und Stimmungsbilder aus der Branche einzufangen und in die weitere Diskussion einzubringen.



Autor(in): Tim Müller
Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg
Projektmanager Kommunikation & Koordination
E-Mail: t.mueller@tourismus-bw.de


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2 Kommentare

Kommentare




  1. Uwe Baumann sagt:

    So muss es zukünftig werden und sein…. diese notwendige Ganzheitlichkeit pflege ich schon seit mehrerer Jahrzehnten in meinen Projekten – mit bestem mittel-und langfristigen Erfolgen. Die Wirkung von 360-Grad- Ansätze kann ich deshalb bestens bestätigen …

    1. Tim Müller sagt:

      Lieber Herr Baumann, vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Einschätzung!

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