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Tourismus jenseits des Wachstums: Was ist Gemeinwohl-Ökonomie?

26.06.2023

Am 4. Juli 2023 beschäftigt sich der TMBW-Tourismustag mit dem Thema „Tourismus jenseits des Wachstums?“. Die Veranstaltung dient als Startschuss für eine breite Diskussion darüber, wie sich das Urlaubsland Baden-Württemberg künftig beim Thema Wachstum positionieren möchte und wie touristischer Erfolg gemessen werden soll. Im Vorfeld werden die wichtigsten Fragestellungen und Facetten des Themas hier im Tourismusnetzwerk eingeordnet. In diesem Beitrag geht um die Frage „Was ist Gemeinwohl-Ökonomie?“.

Auf den ersten Blick klingt es fast ein wenig revolutionär: Die wirtschaftlichen Aktivitäten eines Unternehmens sollen nicht allein am Profit ausgerichtet sein, sondern am Gemeinwohl. Doch die Ideen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch die Landesregierung von Baden-Württemberg hat das Thema für sich entdeckt. Als erstes Landesunternehmen legt ForstBW seit 2020 eine Gemeinwohlbilanzierung vor und wurde bereits zum zweiten Mal mit dem Gemeinwohl-Zertifikat ausgezeichnet. „Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen mindestens fünf weitere Landesbetriebe und Unternehmen mit Landesbeteiligung folgen“, heißt es dazu im Koalitionsvertrag.

Hinter der Zertifizierung steht der Verein Gemeinwohl-Ökonomie, der 2011 in Wien gegründet wurde und heute in zahlreichen Ländern aktiv ist. Initiator ist der österreichische Autor und Aktivist Christan Felber, der in seinem Buch „Die Gemeinwohl-Ökonomie: Das Wirtschaftsmodell der Zukunft“ bereits 2010 die theoretischen Grundlagen beschrieb.

Die Gemeinwohl-Bewegung versteht Entwicklungen wie die Klimakrise, Ressourcenknappheit oder soziale Spannungen als unmittelbare Folgen des Kapitalismus und setzt sich für ein alternatives Wirtschaftssystem ein:

„Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist ein innovatives, nachhaltiges Wirtschaftsmodell mit dem Ziel einer ethischen Wirtschaftskultur. Als Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftsverständnis baut sie auf den Werten Menschenwürde, ökologische Verantwortung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz auf.“ Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland e.V.

Seit ihrer Gründung haben sich weltweit zahlreiche Unternehmen, Länder und Gemeinden den Ideen der Gemeinwohl-Bewegung angeschlossen. Dazu gehören keineswegs nur öffentliche Betriebe. Auch viele privatwirtschaftliche Unternehmen unterstützen das alternative Wirtschaftsmodell und richten ihr Handeln und Wirtschaften daran aus. In Baden-Württemberg gehört dazu neben anderen zum Beispiel die Hayinger Firma Tress, die Restaurants und ein Bio-Hotel betreibt.

Auch Urlaubsregionen und Destinationen können ihre Arbeit am Gemeinwohl ausrichten und sich nach GWÖ-Kriterien zertifizieren lassen. Als ein Vorreiter in Sachen Gemeinwohl gilt der Tourismusverband Wilder Kaiser, der bereits seit 2019 über eine Gemeinwohl-Bilanz verfügt.

Christian Haselsberger wird am TMBW-Tourismustag einen Einblick in die Umsetzung der GWÖ am Wilden Kaiser geben. Er beschreibt als Ausgangspunkt für die Neuausrichtung die damalige Frage, wie sich die Destination in Zukunft weiterentwickeln soll, damit die Region lebenswert bleibt und der Tourismus gleichsam zum Motor für eine ausgezeichnete Lebensqualität wird.

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten zu Tourismus, Destinationsmanagement und Lebensraumentwicklung gewinnt das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie eine zusätzliche Relevanz.

Unternehmen, Kommunen oder Organisationen, die ihren Betrieb nach Gemeinwohl-Kriterien führen möchten, gibt die GWÖ verschiedene Werkzeuge an die Hand:

Die Gemeinwohl-Matrix

„Die Gemeinwohl-Matrix ist ein Modell für die Organisationsentwicklung und Bewertung von unternehmerischen und gemeinwohl-orientierten Aktivitäten. Sie macht den Beitrag zum Gemeinwohl bewertbar. Die Werte in den Spalten fördern erfolgreiche Beziehungen und ein gutes Leben. Die Zeilen spiegeln die fünf Berührungsgruppen wider, mit denen eine Organisation am meisten Kontakt hat. In den Überschneidungen zwischen den Werten und den Berührungsgruppen beschreiben 20 Gemeinwohl-Themen den Beitrag einer Organisation zum Gemeinwohl.“ Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland e.V.

Gemeinwohl-Matrix - Quelle: Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland e.V.

Als erste Landestourismusorganisation hat die Bayern Tourismus Marketing GmbH in Anlehnung an die Gemeinwohl-Matrix eine Matrix für nachhaltige Destinationsentwicklung eingeführt. In der Matrix wurden 20 Aufgabenfelder definiert, die den bayerischen Tourismusschaffenden als Anregung und Inspiration dienen sollen.

Die Gemeinwohl-Bilanz

„Die Gemeinwohl-Bilanz ist das Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie und ein universal anwendbares strategisches Tool, an dem sich Organisationen, Unternehmen, Gemeinden, Bildungseinrichtungen oder NGOs orientieren können, um ihre eigene Balance zu finden und zwischen ihrem Geben und Nehmen ein Gleichgewicht zu schaffen. Sie ist eine ethische Bilanz, die parallel zur finanziellen Bilanz erstellt wird und erfasst auf der Basis der Gemeinwohl-Matrix 5.0 den Beitrag zum Gemeinwohl, der durch das wirtschaftliche Handeln entsteht. Da sie ganzheitlich ist, deckt sie gängige CSR-Berichtsstandards ab und geht sogar darüber hinaus.“ Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland e.V.

Im Rahmen der Gemeinwohl-Bilanz werden mithilfe eines Bewertungssystems Punkte für die Berücksichtigung festgelegter Werte vergeben. Aus der Höhe der Punktzahl lässt sich ablesen, wie stark sich das Unternehmen oder die Organisation für das Gemeinwohl eingesetzt hat. Langfristig fordert die Gemeinwohl-Bewegung, dass Unternehmen mit einer hohen Punktzahl belohnt werden, etwa bei der Besteuerung oder der Vergabe von günstigen Krediten.

Neue Bewertung von Wohlstand

Über diese betrieblichen Bausteine hinaus strebt die Gemeinwohl-Ökonomie eine neue gesellschaftliche Definition von Wohlstand an. An die Stelle des Bruttoinlandsprodukts, das nach den Vorstellungen der GWÖ nicht den wirklichen Zustand einer Volkswirtschaft abbildet, soll das neue Gemeinwohl-Produkt treten: „Anstelle von endlosem materiellem Wachstum misst es das Wohlergehen der Menschen: von Gesundheit und Zufriedenheit über sozialen Zusammenhalt und Verteilungsgerechtigkeit bis hin zu politischer Mitentscheidung und ökologischer Stabilität.“

Zum Weiterlesen:

  • Christian Felber: Die Gemeinwohl-Ökonomie. Ein Wirtschaftsmodell mit Zukunft, aktualisierte und überarbeitete Neuauflage, Wien 2018.
  • Karsten Hoffmann, Gitta Walchner, Lutz Dudek (Hrsg.): 24 wahre Geschichten vom Tun und Lassen. Gemeinwohl-Ökonomie in der Praxis, München 2021.
  • Roland Menges und Michael Thiede: Die Ökonomie des Gemeinwohls. Vom Nutzen des Individuums zum Wohl der Gesellschaft. Wiesbaden 2023 (erscheint im August).


Autor(in): Martin Knauer
Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg
Pressesprecher
E-Mail: m.knauer@tourismus-bw.de


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