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Interview: „Tourismus ist immer Bewegung“

30.10.2023
©Quelle: Uwe Miethe

Dr. Andrea Möller ist die Mobilitätsexpertin des Deutschen Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts für Fremdenverkehr (DWIF), des ältesten Tourismusberatungsunternehmens in Deutschland. Zu ihren Schwerpunkten gehören auch die regionale Tourismusentwicklung und das Destinationsmanagement. Ein Gespräch über Defizite und Lösungsansätze.

Frau Möller, was sind denn die größten Probleme des ÖPNV in Deutschland?
Er wird immer mit dem Pkw verglichen. Der ÖPNV erscheint umständlicher: Ich muss mich informieren, umsteigen, einen Bahnhof suchen. Und dann kommt mir das alles auch teurer vor, weil ich ja ohnehin ein Auto vor der Tür habe und viele nur die Benzinkosten rechnen. Außerdem bin ich mit dem Auto flexibler und kann starten, wann ich will.

Das klingt jetzt aber eher wie eine Barriere im Kopf.
Ich muss, wenn ich mit der Bahn reise, tatsächlich anders denken und anders meine Reise planen. Ich muss Pausen einrechnen und mir eventuell Gedanken über den Gepäcktransport machen. Und ich muss schauen, welche Reiseziele überhaupt infrage kommen für eine Anreise mit dem ÖPNV. Da fallen dann viele Ziele weg, weil ich die derzeit einfach mit der Bahn oder dem Bus nicht erreiche.

Was fällt denn derzeit alles weg?
Das lässt sich pauschal schwer sagen. Sehr periphere Ziele in den Alpen zum Beispiel oder viele Mittelgebirge im ländlichen Raum. Da muss ich selbst bei manchen bekannten Tourismusorten unglaublich oft umsteigen, bis ich dort bin. Die Reisezeit von den großen Knotenpunkten verlängert sich dadurch enorm.

Haben wir also auch ein Angebotsproblem?
Ich denke schon. Die Angebote im ländlichen Raum orientieren sich ja eher am Schülerverkehr als am touristischen Verkehr, das heißt, ich habe unter der Woche oft gute und am Wochenende schlechte Verbindungen. Dabei sind viele Gäste in den Urlaubsorten bereit, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, vor allem, wenn sie aus urbanen Räumen kommen. Die haben damit Erfahrung, viel mehr als die Einheimischen.

©Quelle: dwif-Consulting GmbH
Dr. Andrea Möller © dwif-Consulting GmbH

Ist ein Problem nicht auch, dass die ÖPNV-Tarife oft viel zu kompliziert sind?
Definitiv. Wenn Sie da mal die vielen Modelle anschauen, die es gibt, da können Sie Bücher wälzen, bis Sie etwas verstanden haben. Deswegen sind Gästekarten, in denen der ÖPNV inklusive ist, ja auch so attraktiv, nicht nur wegen des Preisvorteils. Im Urlaub will man es eben unkompliziert.

Da ist das Deutschland-Ticket doch auch ein guter Ansatz, oder?
Ja, es zwingt die Verkehrsverbünde zusammenzuarbeiten und ihre kleinen Königreiche zu verlassen. Zum Vorteil der Kunden.

Hat das Deutschland-Ticket für 49 Euro auch einen touristischen Effekt?
Nicht so stark wie das Neun-Euro-Ticket, aber erste Untersuchungen sagen, dass es eine stetige Zunahme gibt. Da sind es 20 Prozent, die ein ÖPNV-Abo am Wohnort haben und damit potenziell als Umsteiger auf das Deutschland-Ticket infrage kommen. Die Leute nutzen das Deutschland-Ticket schon auch im Urlaub, nicht unbedingt für die Anreise, denn die schnellen Fernzüge wie IC und ICE sind ja nicht enthalten, aber vor Ort.

Vor Ort, ein gutes Stichwort, die letzte Meile. Was kann man denn in den Destinationen tun, um das ÖPNV-Angebot attraktiver zu machen?
Man muss vor allem das Angebot an den Wochenenden und in den Ferienzeiten ausbauen: Wanderbusse, Fahrradbusse, Freizeitbusse und so weiter. Man muss aber auch an den touristischen Produkten arbeiten: Eine Maßnahme könnte sein, Beherbergungsbetriebe zu finden, die einen Rabatt gewähren, wenn jemand öffentlich anreist. Das gibt es in Einzelfällen sogar schon. Ein Verleih-System von E-Bikes ist eine weitere gute Idee, weil der Bus ja nicht überall hinfahren kann. Spannend sind auch Internet-Plattformen und Apps, die ab dem jeweiligen Standort die Ziele angeben, die mit dem ÖPNV gut erreichbar sind. Du bist jetzt zum Beispiel am Bahnhof X und kommst von dort, ohne umzusteigen, in einer Stunde zum Badesee Y, so etwas.

Es gibt ja sogar Produkte, bei denen der ÖPNV überlegen ist. Streckenwanderungen zum Beispiel.
Richtig. Hier gilt es, noch mehr solcher ÖPNV-kompatiblen Angebote zu schaffen, die dann auf den Plattformen und Informationskanälen auch entsprechend beworben werden.

©Quelle: TMBW/Düpper

Das ist tatsächlich eine Grundfrage: Wie komme ich an meine Informationen? Wie steht es da um die Kompetenz der Mitarbeitenden in Hotels und Touristinformationen, was den ÖPNV angeht?
In den großen Städten ist das meistens gut, im ländlichen Raum aber ein Schwachpunkt. Vor allem die Unterkunft ist als Auskunftsstelle für die Gäste ja extrem wichtig, das wissen wir aus vielen Gästebefragungen. Bis jetzt habe ich da nur in wenigen Landhotels eine zuverlässige Information bekommen, wenn ich das mal ausprobiert habe. Es liegt hauptsächlich daran, dass die Mitarbeitenden im ländlichen Raum den ÖPNV selbst nicht nutzen und ihn deshalb auch nicht kennen. Nur wer seine Produkte kennt, kann darüber auch kompetent Auskunft geben.

Was kann man dagegen tun?
Einige DMOs bieten zum Beispiel gezielt Ausflüge für ihre Mitarbeiter und Hotelangestellten an, damit die den öffentlichen Verkehr bei sich in der Region auch mal kennenlernen. Ein guter Anfang.

Der Vergleich geht immer wieder in die Schweiz. Wieso funktioniert in der Schweiz denn alles besser?
Erst mal sind dort die geographischen Verhältnisse ganz anders. Das Land ist viel kleiner, es gibt viele enge Täler, in denen Auto und Bahn genau den gleichen Weg nehmen müssen. Das ist in einem Flächenland wie Deutschland ja oft nicht der Fall, da hat das dichte Straßennetz viel mehr Alternativen als die Bahn. Außerdem haben die Schweizer nicht so sehr auf ein Schnellbahnnetz gesetzt, sondern auf eine gute Vertaktung in der Fläche. In Deutschland wurden viel zu lange Bahnstrecken abgebaut, die man nun aufwändig wiederbeleben muss.

Kann es sein, dass in Deutschland die Akteure oft auch nicht an einem Strang ziehen?
Kooperationen sind hier wirklich das A und O. Wenn es funktionieren soll, müssen Verkehrsvertreter und Touristiker an einen Tisch. Da ist man auch, was die finanzielle Verrechnung der Leistungen angeht, erst am Anfang.

Wie wichtig ist denn generell die Mobilität im Urlaub?
Sehr wichtig. Tourismus ist immer Bewegung. Urlauber sind sehr mobil im Urlaub und ihre Mobilität endet nicht an der Kreisgrenze, auch wenn das viele Touristiker und Touristikerinnen gerne so hätten. Laut Qualitätsmonitor Deutschland-Tourismus unternahm 2021/22 fast jeder zweite Urlaubende einen Ausflug außerhalb des Urlaubsorts. Wenn das gut funktioniert und vielleicht sogar in einer Gästekarte enthalten ist, sind die Leute zufrieden.

Info:

Zum Thema nachhaltige Mobilität war Dr. Andrea Möller im Frühjahr 2023 auch in der Videosprechstunde “TMBW Branchen-Talk” zu Gast. Mit ihr und weiteren Gesprächspartnern diskutierte TMBW-Geschäftsführer Andreas Braun unter anderem darüber, welche Gestaltungsmöglichkeiten Tourismusschaffende haben, um nachhaltige Mobilität vor Ort zu verbessern. Den Nachbericht zum Expertengespräch gibt es hier: “Was Destinationen für nachhaltige Mobilität tun können”

Dieses Interview ist die Online-Version eines Artikels unseres Autors Andreas Steidel aus der jüngsten Ausgabe des Magazins „Tourismus Aktuell“. Darin informiert die TMBW zweimal im Jahr über aktuelle Trends und Entwicklungen im Tourismus. Das Magazin kann kostenlos heruntergeladen, bestellt oder abonniert werden.

Ansprechpartner für “Tourismus Aktuell”:
Dr. Martin Knauer
m.knauer@tourismus-bw.de



Autor(in): Oliver Gelhardt
Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
E-Mail: o.gelhardt@tourismus-bw.de
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